In den letzten Tagen hat sich ein veritabler Shitstorm gegen einen Artikel in der feministischen Philosophie-Zeitschrift „Hypatia“ entladen. Er heißt „In Verteidigung des ‚Transracialism'“.
Der Begriff „Transracialism“ verweist analog zu „Transgenderism“ darauf, dass man wie das Geschlecht auch die Rasse wechseln beziehungsweise in der falschen rassischen Gruppe geboren sein könne.
(Klarstellung und Distanzierung: „Rasse“ ist nicht mein Sprachgebrauch oder meine Denkkategorie, sondern deren. Im heutigen akademischen Betrieb gilt so etwas wie „Kritische Rassentheorie“ als normal und progressiv.)
Die Autorin Rebecca Tuvel argumentiert im Artikel des Anstoßes, dass es keinen Grund gebe, „Transracialism“ abzulehnen, wenn man die Argumente für Transgenderismus akzeptiere, denn die seien für beide gleichermaßen gültig.
Es ist nicht ganz klar, woran es liegt, dass sich daraufhin ein Online-Mob von feministischen Philosophinnen gegen Tuvel formte. Jedenfalls forderte ein offener Brief von Hypatia die Rücknahme des Artikels, eine Entschuldigung und eine Verbesserung des Review-Prozesses. Die Herausgeber fackelten nicht lange, erfüllten die Forderungen und fielen der von ihnen publizierten Autorin in den Rücken, indem sie feststellten, dass die „hitzige Kritik vorhersehbar und berechtigt“ sei.
Unklar sind die Gründe deshalb, weil der offene Brief in nahezu allen angeführten Kritikpunkten den Artikel falsch wiedergibt, wie das Magazin „New York“ darlegt, so dass man sich fragen muss, ob die Unterzeichner ihn nicht gelesen haben oder bösartig agieren.
Für Letzteres spricht eine ziemlich auffällige Auslassung. Da wird kritisiert, Tuvel nenne den Namen einer transsexuellen Person, den diese vor der Annahme ihrer neuen Identität getragen habe. Dies wird von Transsexuellen begreiflicherweise als respektlos empfunden und kann sogar gefährlich für sie sein, wenn sie nicht geoutet sind.
Der Brief unterschlägt dabei aber ein winziges Detail: Bei dieser transsexuellen Person handelt es sich um Caitlyn (ehemals Bruce) Jenner, deren Geschichte unter ihrer Mitwirkung schon vielfach publiziert wurde und jedem US-Amerikaner bekannt ist, der halbwegs aufmerksam das Mediengeschehen verfolgt.
Ich wurde durch einen Tweet von Christina Hoff Sommers auf das alles aufmerksam. Sommers verlinkte auf ein Facebook-Posting der Philosophie-Professorin Nora Berenstain und forderte dazu auf, die Tatsache auf sich wirken zu lassen, dass dies eine Philosophie-Professorin sei.
@CHSommers @UTKnoxville And, she is deleting any/all comments of disagreement. Not open to debate.
— Carmen FowlerLaBerge (@carmenlaberge) May 1, 2017
Das Posting war ein paar Stunden nach Erscheinen bereits von vielen Kommentatoren bejubelt und rund 90 Mal geteilt worden. In einer Vorahnung wollte ich es bei Archive.org für die Nachwelt bewahren, doch das Internetarchiv weigert sich aufgrund der robots.txt-Einstellungen von Facebook, Facebook-Inhalte aufzunehmen.
Wie erwartet ist das Posting inzwischen entweder gelöscht oder auf privat gestellt. Ich vermute, das hat mit Sommers‘ Tweet zu tun. Das Licht der Öffentlichkeit mögen sie nicht; sie wollen ja auch nur radikal die Gesellschaft umbauen. Das geht niemanden etwas an.
Stay in the shadows
Cheer at the gallows
This is a round upThis is a low flying panic attack
Sing a song on the jukebox that goesBurn the witch
Burn the witch
We know where you liveRed crosses on wooden doors
And if you float you burn
Loose talk around tables
Abandon all reason
Avoid all eye contact
Do not react
Shoot the messengersThis is a low flying panic attack
Sing the song of sixpence that goesBurn the witch
Burn the witch
We know where you live
We know where you live
Die Anklage: Tuvels böser Blick oder „Schaden und Gewalt“
Zum Lachen, Weinen und Staunen habe ich das Posting mal übersetzt. Hier ist das Original als Screenshot. Ich finde daran mehrere Dinge bemerkenswert und kommentiere entsprechend.
Zur Zeit wird Rebecca Tuvels Artikel „In Verteidigung des Transracialism“ in Hypatia breit diskutiert. Der Artikel enthält in ungeheuerlichem Ausmaß weiße Ignoranz und diskursive transmisogyne Gewalt.
Gewalt! Ein Thema von der (gefühlt) falschen Seite anzugehen und (bei manchen) verpönte Begriffe zu verwenden ist Gewalt, nein; ungeheuerliche Gewalt.
Im oben verlinkten Artikel weist das New-York-Magazin darauf hin, dass durch diese inflationäre Verwendung des Wortes Gewalt reale Gewalt verharmlost wird, die Minderheiten tatsächlich erleiden.
Aber mich besorgt an diesem Sprachgebrauch noch etwas anderes. Neben „Gewalt“ kommt auch „Schaden“ häufig vor („harm“); der Artikel richte „Schaden“ an. Im offenen Brief kommt „harm“/„harms“ fünf Mal vor, in der Entschuldigung von Hypatia insgesamt acht Mal („harm“/„harms“/„harmful“).
Ein Grundprinzip unserer Rechtsordnung und unseres Rechtsempfindens ist, dass die Freiheit des Individuums da endet, wo es einem anderen durch ihre Ausübung Schaden zufügen würde. Die Behauptung, jemandes Handeln richte Schaden an, beinhaltet einen moralischen Imperativ, dieses Handeln zu stoppen.
Und nun werden Gewalt und „Schaden“ bereits da konstatiert, wo eine junge Philosophin in einem Aufsatz ein paar Millimeter von der Parteilinie abweicht.
Was passiert, wenn Leute mit dieser Auffassung von Schaden politische Macht besitzen?
Unglücklicherweise haben viele weiße Philosophen ihre Beiträge zur öffentlichen Diskussion darauf konzentriert, dass sich die Wut und Kritik negativ auf Tuvels Karriere auswirken könnte, in der Annahme, dass dies schlecht wäre, da sie eine junge Frau in der Philosophie ist.
Junge Frau in der Philosophie. Ageismus und Sexismus, könnte man sagen, aber eben im richtigen Team, und da geht das.
Die Frage ist nicht etwa, ob man sich einem Menschen gegenüber anständig verhalten sollte oder ob Mobs generell nicht der richtige Weg sind.
Tuvel ist mehr wert als irgendein Mensch, weil sie eine Frau ist, und zugleich weniger, weil sie nur als austauschbare Repräsentantin eines Kollektivs gesehen wird. Ihre Betätigung in der Philosophie ist ein Beitrag zum Masterplan der sozialen Gerechtigkeit, da Frauen dort „unterrepräsentiert“ sind. Mit ihr als Person hat das nichts zu tun. Als Person ist sie irrelevant.
Das Individuum zählt nichts, Kollektive sind alles.
Weiße feministische Philosophen haben die Tendenz, sich um andere weiße Frauen zu scharen, wenn wir Schaden anrichten. Tuvel übt in ihrem Essay auf vielfältige Weise Gewalt aus und perpetuiert Schaden.
Natürlich.
Sie totnennt eine Transfrau.
Ein Problem an intersektionalen Schriftwerken ist, dass Vieles schwer bis unmöglich zu übersetzen ist. Wie ich herausfand, bedeutet das Verb „to deadname“ jedenfalls, wie oben erwähnt, eine Transperson bei dem Namen zu nennen, mit dem sie geboren wurde.
Sie verwendet den Begriff „Transgenderismus“.
Berenstains Follower werden wissen, in welcher Weise das gewalttätig ist; ich müsste raten.
Sie spricht über „biologisches Geschlecht“ und benutzt Ausdrücke wie „männliche Genitalien“.
Krass. Diese Nazi-Schlampe.
Sie konzentriert sich stark auf chirurgische Operationen, was der Objektifizierung von Transkörpern Vorschub leistet. Sie spricht von einem „Mann-zu-Frau (MTF) Trans-Individuum, das zu männlichen Privilegien zurückkehren könnte“, wodurch sie die schädliche transmisogyne Ideologie verbreitet, dass Transfrauen männliche Privilegien (irgendwann gehabt) hätten. In ihrer Diskussion des „Transracialism“ zitiert Tuvel keine einzige Woman-of-Color-Philosophin und setzt sich weder ernsthaft mit Arbeiten von Schwarzen Frauen auseinander, noch zitiert sie die Arbeit von Schwarzen Trans-Frauen, die über das Thema geschrieben haben, oder setzt sich damit auseinander. Auf ihrer Website beschreibt Tuvel ihre Arbeit als „am Schnittpunkt kritischer Rassen-, feministischer und Tier-Ethik“ stehend. Sie bezeichnet ihre Arbeit über Rasse als kritisch! Nicht ein einziges Mal taucht der Ausdruck „weiße Suprematie“ in ihrem Werk auf.
„Kritisch“ wäre, die Schlagworte zu benutzen, die die anderen auch benutzen und erwarten.
Sie behauptet, es sei ihr „grundsätzliches Anliegen, Theoriebildung für unterdrückte Gruppen zu betreiben“. Aber sie setzt sich nicht mit den Stimmen Schwarzer Frauen auseinander oder hört ihnen auch nur zu, während sie über Gerechtigkeit für Schwarze Frauen „Theoriebildung betreibt“. Das ist inakzeptabel. Das ist Gewalt.
Selbstverständlich.
Ich glaube, wir müssen Tuvels schädliche, gewalttätige, aktiv ignorante Arbeit in den breiteren sozialen Kontekt stellen und anerkennen, dass es die standardmäßige Disposition von weißen Cis-Frauen ist, epistemische Gewalt gegen Trans-Menschen, gegen People of Color, gegen Frauen of Color, gegen Schwarze Frauen, gegen Trans-Frauen of Color und gegen Schwarze Trans-Frauen zu begehen. Dies ist die Norm für weiße Cis-Frauen innerhalb und außerhalb der Philosophie. Es ist keine Ausnahme.
Haben das alle gehört? Es ist die Norm für „weiße Cis-Frauen“, Gewalt gegen Minderheiten auszuüben.
„Aktive Ignoranz“ (Anfang des Absatzes) ist übrigens einer von Berenstains eigenen „Forschungsschwerpunkten“. Ich habe mich da jetzt nicht eingelesen, vertraue aber darauf, dass man damit auch Leuten, die überhaupt nichts tun, hervorragend Gewalttätigkeit vorwerfen kann.
Weiße Cis-Frauen haben eine besondere Fähigkeit, diese Art von Gewalt auszuüben, weil man uns als unschuldig und zerbrechlich ansieht.
Und das ist nun hochinteressant. Männerrechtler dürften an dieser Stelle ein Halleluja singen, dass eine radikale Feministen diesen Umstand erkennt: Frauen gelten gemeinhin als zerbrechlich und unschuldig und kommen daher mit größeren Verfehlungen weg als Männer. Das ist eine gut dokumentierte sozialpsychologische Tatsache. Es ist der exakte Gehalt des von Miriam Kachelmann eingeführten Begriffs „Opfer-Abo“, der 2012 zum Unwort des Jahres wurde, weil er in Frage stellt, dass Frauen zerbrechlich und unschuldig sind.
Wohin verschwindet die Einsicht in dieses weibliche Privileg, wenn weiße Frauen gedanklich neben weißen Männern stehen und nicht, wie hier, zwischen schwarzen Frauen und Transsexuellen?
Im Rahmen der intersektionalen Opfer-Olympiade wird es möglich, weibliche Privilegien anzusprechen, wenn Gruppen mit mehr Opferpunkten danebenstehen. Die Abstufung der Opfergrade muss ja auch deutlich werden, und wie üblich bezieht Berenstain die moralische Autorität ihres wütenden Angriffes aus der Behauptung, dass sie im Namen der Opfer spreche. Dabei sehen wir mal darüber hinweg, dass sie das ihrem eigenen Standpunkt zufolge eigentlich nicht kann und darf, ohne voher diese Opfer zum Thema zu befragen.
Sobald eine Frau einem Mann ein Unrecht tut, ist dann aber wieder die Parteilinie, dass sie gute Gründe gehabt haben muss, denn sonst tut eine Frau so etwas doch nicht.
Außer, wenn der Mann besondere Opferpunkte vorweisen kann:
So waren Anna Stubblefields „gute Absichten“ kürzlich der entscheidende Punkt in der Verteidigung ihrer sexuellen Gewalt gegen einen behinderten Schwarzen Mann durch Singer & McMahan.
In der Tat ein ernster Fall. Eine weiße, 41-jährige, verheiratete Ethik-Professorin mit zwei Kindern verging sich sexuell an einem 30-jährigen geistig und körperlich behinderten Mann, nachdem sie dessen Eltern versprochen hatte, ihm bei der „Kommunikation mit der Außenwelt“ helfen zu können.
Die New York Times findet das gleich in der Überschrift „strange“.
Eine Frau handelt kriminell und unmoralisch? Merkwürdig! Und ab morgen früh ist sexuelle Gewalt dann wieder etwas, das nur Frauen erleiden.
Weiße Frauen mit guten Absichten sind gefährlich.
Was sind dann erst weiße Frauen mit bösen Absichten?
Man denke daran, wie schnell ein Mann als Frauenhasser abgeschossen wird, der solche Kritik an unserer naiven Heiligsprechung des weiblichen Geschlechts auch nur vorsichtig andeutet. Dabei ist solche Kritik unausweichlich, wenn man Frauen als Menschen für voll nimmt.
Respektierte, wohlmeinende weiße Cis-Frauen in der Philosophie haben ein außergewöhnliches Maß an Schaden angerichtet und tun das weiterhin, und wir tun es unbehelligt von weiteren weißen Cis-Leuten. Hier sind nur einige Beispiele:
1962 schrieb Amelie Rorty einen Beitrag namens „Sklaven und Maschinen“. Die zentrale These war, dass „die Frage, ob Maschinen denken, der Frage ähnelt, ob Sklaven denken“. Fünfzig Jahre später hielt sie eine rassistische Keynote in meiner Fakultät. Der/die [?] eine Schwarze Studierende im Grundstudium verließ den Raum und wahrscheinlich die Philosophie.
Wahrscheinlich.
1996 schrieb Claudia Card einen Artikel namens „Vergewaltigung als Kriegswaffe“, der eine Fantasie beinhaltete, dass die Strafe für männliche Vergewaltiger darin bestehen sollte, sie zu kastrieren und zu zwingen, als Frauen zu leben. Nachdem ich auf einer Open-Mic-Veranstaltung kommentiert hatte, dass die Ehrerbietung für Card die Konferenz zu einem unsicheren Raum für Trans-Frauen machte, schalt mich Eva Feder Kittay für meine missgünstige Rezeption und behauptete, Card habe das so nicht beabsichtigt und man solle aus einer Mücke keinen Elefanten machen.
Diese Geschichte, die mehr als 30 Jahre nach der ersten stattfindet, endet hier. Eine Kollegin erhebt am Rande einer Konferenz mäßigenden Einspruch gegen eine strenge, verurteilende Auslegung einer anderen Kollegin.
Daraus folgt: Es ist die Norm, dass weiße Cis-Frauen Gewalt gegen Minderheiten ausüben.
Wenn so ein Mann argumentierte und jemand sagte, dass dieser Mann anscheinend (komplett durchgeknallt und) von Frauenhass besessen sei, was wahrscheinlich nicht lange auf sich warten ließe, hätte dieser Jemand völlig Recht.
Wieder das Schema: Wer von meiner Sichtweise abweicht, in welcher Form und welch geringfügigem Maß auch immer, der ist ein Gewalttäter gegen die Schwachen. Es ist dadurch grundsätzlich immer ein Verbrechen, dieser Person zu widersprechen.
Und noch einmal: Ist es empfehlenswert, Leute, die so denken, mit politischer Macht ausstatten?
In ihrem Buch „Epistemische Ungerechtigkeit“ von 2007 illustriert Miranda Fricker das Konzept hermeneutischer Ungerechtigkeit, indem sie die Erfahrungen von Carmita Wood beschreibt, die sexuelle Belästigung erlebt hat, bevor das Konzept allgemein bekannt war. Fricker erwähnt dabei an keiner Stelle, dass Wood Schwarz ist. Sie untersucht nicht die Rolle, die der Rassismus bei der Herstellung der weißen, männlichen Anspruchshaltung gespielt hat, die in dem beschriebenen Fall der sexuellen Belästigung und Übergriffe durch Woods Chef evident ist. Fricker konzentriert sich ausschließlich darauf, wie die Lücke in den geteilten hermeneutischen Ressourcen Frauen schadet, und ignoriert die Tatsache, dass der Sexismus, den Schwarze Frauen erleiden, rassisiert ist. Frickers bietet ein Narrativ des weißen Retters dafür an, wie Wood ihre Erfahrungen zu verstehen lernte, und sie versäumt es, Woods rechtliches Vorgehen im weiteren Kontext des Widerstandes Schwarzer US-Frauen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu situieren. Fricker zitiert keine einzige Schwarze Frau in ihrem Buch.
Je nach den näheren Umständen des Falles mag das eine berechtigte Kritik sein. Es sind sicher nicht alle Beziehungen zwischen weißen Männern und schwarzen Frauen gleichermaßen von Rassismus geprägt.
Carol Hay, die Geschäftsführerin und Schatzmeisterin der Gesellschaft für Analytischen Feminismus, stellt die Ethik und den Liberalismus Kants in den Dienst des Feminismus. In einem Interview von 2015 beschreibt sie ihre Arbeit als „Antithese zur Mahnung von Audre Lorde, dass die Werkzeuge des Herren nie dazu dienen können, das Herrenhaus einzureißen“. Sie fährt fort: „Ich will herausfinden, wie viel wir mit diesen Werkzeugen einreißen können.“
Einfach mal möglichst viel einreißen. So repariert man die Welt.
Sie eignet sich unrechtmäßig die Wörter von Audre Lorde an, ohne sich wirklich mit deren Arbeit auseinanderzusetzen, der Arbeit einer Schwarzen lesbischen Frau und Forscherin.
Blasphemie!
Sie stellt Lordes radikale Perspektive als den überlieferten Standpunkt dar, den jedoch vielmehr der weiße Mainstream-Feminismus bildet, für den Hay die Worte Lordes in Beschlag nimmt.
Ich stecke da nicht so drin, aber das klingt stark nach einem Punkt, bei dem verschiedene Einschätzungen möglich sind. Außer natürlich, wenn alle bis auf eine zu Gewalt erklärt werden.
Trotzdem äußerten viele weiße feministische Philosophinnen Überraschung, als Schwarze Frauen unter den Philosophinnen die Misogynoir der SAF-Konferenz (die von Hay mitorganisiert wurde) und das fast vollständige Fehlen einer kritischen Antwort darauf durch die anwesenden weißen Feministinnen kritisierten.
Die Konferenz der Society for Analytical Feminism ist geprägt von gegen schwarze Frauen gerichteter Frauenfeindlichkeit („Misogynoir“). Da kann man schon Überraschung empfinden.
Wozu ist der Feminismus eigentlich gut, wenn sogar die Frauen auf seinen eigenen Konferenzen frauenfeindlich sind?
Weiße Frauen müssen aufhören, Überraschung zu äußern, um uns von der Übernahme moralischer Schuld zu distanzieren.
„Um zu“ … nun ja, vielleicht waren die Betreffenden einfach überrascht.
Inzwischen ist die Überraschung selbst Grund zum Tadel, da wir es besser wissen sollten.
Wir sind sündhaft und weil ich das anprangere, darf ich um mich schlagen.
Die Ausübung von Gewalt gegen Frauen of Color durch weiße Frauen ist nicht die Ausnahme; sie ist die Regel.
Weiße Cis-Frauen müssen intensiv darüber nachdenken, wie sie ständig unsichere Räume für diejenigen schaffen und aufrechterhalten, die in unserer Disziplin ohnehin marginalisiert und Opfer von Gewalt sind. Wir müssen anerkennen, dass wir oft nicht kompetent oder qualifiziert sind, die Arbeit zu tun, die zu tun wir uns arrogant für fähig halten. Wir erkennen und reagieren schnell auf Inkompetenz und Gewalt, wenn sie von weißen Männern wie Singer und McMahan ausgeht, aber nicht wenn die Täterinnen andere weiße Frauen sind. Es ist Zeit, höhere Maßstäbe an uns selbst und aneinander anzulegen.
Deswegen hetzen wir jetzt erstmal auf Basis schlampig-böswillig-falscher Anschuldigungen einen Mob auf eine von uns. Der hohen moralischen Maßstäbe wegen.
Schöne Karriere haben Sie da. Wäre doch schade, …
Ungefähr zeitgleich mit dem Erscheinen des offenen Briefes hat Rebecca Tuvel eine Stellungnahme veröffentlicht. Daraus:
Aber so viel Zorn in den elektronischen Medien hat sich in ad-hominem-Attacken ausgedrückt. Ich habe Hassbriefe erhalten. Ich wurde von Menschen, die mich nicht kennen, als schreckliche Person bezeichnet. […] Viele drängen mich und die Zeitschrift, den Artikel zurückzuziehen und eine Entschuldigung zu veröffentlichen. Sie haben mich gewarnt, dass es vernichtende persönliche, berufliche und moralische Folgen für mich haben würde, das nicht zu tun. Die wenigen, die mich unterstützen, haben viel über Mobbing, die Kultur der Bloßstellung, Virtue-Signaling, Mobmentalität und akademische Freiheit gesprochen.
Rebecca Tuvel scheint eine intelligente junge Frau mit gutem Herzen zu sein, die vom akademischen Betrieb in eine Sekte hineinsozialisiert wurde, von der ihr moralisches und intellektuelles Koordinatensystem bestimmt wird. Das ist kein weißes Rittertum meinerseits; ich würde über einen Mann das gleiche sagen. Und darin stimme ich Berenstain zu: Menschen mit guten Absichten können gefährlich sein.
Eine Sekte marschiert für die Wissenschaft
Die fanatisierten Studenten, die in der Auseinandersetzung mit Menschen außerhalb ihrer akademischen Sekten nur noch Profanitäten und Slogans brüllen können, weil sie auf maximale Intoleranz und Engstirnigkeit konditioniert wurden, sind mehr Opfer als Täter.
Wie soll man auch einen klaren Kopf bewahren, wenn man buchstäblich die halbe Kindheit und Jugend in einem Betrieb verbringt, der einen mit seiner ganzen institutionellen Autorität und dem ganzen Druck sozialer Konformität auf ein kontrafaktisches Glaubenssystem drillt?
Das Sektierertum umfasst nicht den ganzen Wissenschaftsbetrieb. Aber die, die nicht dazugehören, sehen weg. Sie lassen es geschehen. Sie fragen sich nicht, was das Heranwachsen ganzer Alterskohorten von ressentimentgeladenen und dialogunfähigen Fanatikern in einer politisch zunehmend polarisierten Zeit für die Zukunft des Zusammenlebens, für den sozialen Frieden und die Aussicht auf fortgesetzten wirtschaftlichen Erfolg bedeutet. Auch die Journalisten interessiert das nicht.
Sie demonstrieren lieber gegen Trump und nennen das „March for Science“.
Die Frage kann doch nur noch sein, wie man das Ruder wieder rumreisst. Generationen von Studierenden sind doch jetzt schon verloren.
Moin. In Amerika gibt es wieder Hoffnung. Leider habe ich den Link zum Artikel nicht mehr. Der beschriebene Mechanismus ist folgender:
Viele Studenten, die diesen Quatsch studiert haben, bekamen keinen oder keinen adäquaten Job. Dadurch verringerte sich die Nachfrage in den entsprechenden Fakultäten. Da die Professoren unkündbar waren, außer bei Schließung der gesamten Fakultät, hat eine (oder mehrere, ich weiß es nicht mehr) amerikanische Uni mehrere solcher Fakultäten aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen.
Geht doch…
Hallo, besten Dank für Deine ausführliche Darstellung! Es sind – wie üblich – viele starke Punkte dabei, dazu auch viele witzige Kommentare.
Wichtig ist zum Beispiel Dein Hinweis auf die Absurdität „Tuvel ist mehr wert als irgendein Mensch, weil sie eine Frau ist, und zugleich weniger, weil sie nur als austauschbare Repräsentantin eines Kollektivs gesehen wird.“ Wichtig ist auch Dein Verweis aufdie Konsequenzen des inflationären Gebrauchs von Worten wie „harm“ und „harmful“.
Schlicht genial sind solche Kommentare wie „Einfach mal möglichst viel einreißen. So repariert man die Welt.“
Und doch bin ich mit Deiner Analyse nicht so ganz glücklich. Ich finde, irgendwie ist hier der Akzent falsch gesetzt.
Das Problem ist doch nicht, daß da irgend eine Person bizarre Anschuldigungen veröffentlicht und dabei implizit zu Repression gegen einen Wissenschaftler aufruft. Gefährliche Idioten hat es immer gegeben, und wird es immer geben.
Das Problem ist doch eher: Wie reagiert das etablierte „System“ auf solche Auswüchse? Und mit „System“ meine ich
– einerseits die betroffenen akademischen Institutionen (also vor allem die Redaktion der Zeitschrift „Hypatia“, aber z. B. auch die Fakultät des Angreifers Nora Berenstain sowie die Fakultät des angegriffenen Opfers)
– andererseits die betreffende Internet-Öffentlichkeit, also die Friends und Followers auf Facebook, u. dgl.
Der eigentliche Skandal liegt, so scheint mir, im Versagen dieser beiden Instanzen:
– Die Redaktion der Zeitschrift gibt dem Angreifer recht und läßt das Opfer im Stich,
– die Internet-Öffentlichkeit formiert sich zum Mob und arrangiert eine mediale Treibjagd auf das Opfer.
Und ich finde halt, auf diesen Skandal müßte man den hauptsächlichen Fokus legen. Wenn man größtenteils die Texte des Angreifers analysiert, dann läuft das letztlich doch wieder auf ein ad-hominem-Argument hinaus: Ja, Nora Berenstain ist durchgeknallt und hat groteske Texte veröffentlicht – na und? Wie schon gesagt: Idioten wird es immer geben.
Aber wenn Du etwas über die Gesellschaft, über das „System“ oder wie auch immer, erkennen willst, dann schau Dir nicht so sehr die Extreme an, die Auswüchse, die Freaks – sondern analysiere, wie das System auf solche Extreme reagiert, wie es die Auswüchse „verarbeitet“, wie es die Freaks behandelt. Für mich wäre dieser Fokus entscheidend. Und ich finde halt, darüber kommt in Deiner Analyse nicht so sehr viel vor.
Nora Berenstain ist nur ein Symptom – uns aber muß die zugrunde liegende Krankheit interessieren.
Der eigentliche Skandal ist für mich, dass diese Ideologie in der ganzen westlichen Welt so viel Macht hat. Die abschließenden Absätze verweisen darauf. Vor diesem Hintergrund finde ich das Verhalten der Redaktion von Hypatia genauso nebensächlich wie die Person Nora Berenstain. Und diesem Oberthema ist eigentlich das ganze Blog gewidmet.
Ja, OK – dann hab‘ ich Deinen wesentlichen Punkt nicht korrekt verstanden. Dann zieht meine obige Kritik nicht so recht.
Ich würde dann aber schon sagen: „dass diese Ideologie in der ganzen westlichen Welt so viel Macht hat“, liegt wesentlich auch am Verhalten der Redaktion dieser Zeitschrift.
Stell‘ Dir einfach mal vor, diese Redaktion hätte sofort auf die vielen Ungereimtheiten und Ungeheuerlichkeiten bei Nora Berenstain hingewiesen und sich geschlossen hinter das Opfer gestellt (einfach im Sinne der Freiheit von Forschung und Lehre). Ich denke schon, daß das viel ausgemacht hätte …
Allgemein: Die Macht dieser Ideologie begründet sich wesentlich auf dem Versagen von Universitätsleitungen, Medienleitungen und solchen Organisationen wie UNO u. dgl.
Und weil Du auf Deine „abschließenden Absätze“ verweist – Du schreibst dort u.a.:
„Aber die, die nicht dazugehören, sehen weg. Sie lassen es geschehen. Sie fragen sich nicht, was [das-und-das] bedeutet. Auch die Journalisten interessiert das nicht.“
Ist das nicht ein bißchen hart? Klar sehen viele weg, klar fragen sich viele nicht … – aber doch bei weitem nicht alle.
Was sollen diejenigen, die dagegen sind, denn unternehmen? Du weißt, daß sowohl im akademischen Betrieb als auch im Medienbereich sehr viele befristete Verträge vorliegen. Die Mehrzahl der dort arbeitenden Leute ist prekär beschäftigt.
Wie sollen diese Leute denn Widerstand leisten, wenn sie nicht nur viele Studenten und Professorren, sondern auch die Universitätsleitung – oder eben im Medien-Betrieb die Ressortleitung und die Chef-Redaktion gegen sich haben?
Ist doch klar, daß da die meisten die Fresse halten – sie müssen daran denken, womit sie in den nächsten Jahren ihr Brot verdienen können.
Ergebnis: Wir sehen und hören nur die SJW und denken: Diejenigen, die „nicht dazugehören“, sehen weg, die interessiert es einfach nicht.
Ist das nicht ein bisschen widersprüchlich? In der ersten Hälfte verlangst du von Akteuren in Institutionen, integer und couragiert zu handeln, und in der zweiten sagst du dann, sie können sich das nicht leisten. Oder ziehst du die Grenze zwischen „Leitungen“, die ideologisch sind, und mittleren und unteren Ebenen, die es nicht oder weniger sind? Also, das sehe ich nicht so. Weder dass Führungspersonen ideologischer wären, noch dass sie unbedingt mehr Handlungsfreiheit hätten. Auch so ein Universitätspräsident ist schnell weggeschossen, wenn er etwas sagt, das einer ausreichenden Zahl von SJWs nicht gefällt. Solche Führungspersonen sind doch keine unumschränkten Monarchen, sondern Funktionäre, die ebenso dem Apparat unter sich gehorchen müssen wie der Apparat ihnen. Ich sehe nicht, dass das eindeutig von oben käme. Oben werden Dinge beschlossen, aber unten werden sie erarbeitet und hochgespielt.
Zum zweiten Punkt, genau das, was du beschreibst, ist doch „wegsehen“. Nicht handeln, weil Handeln mehr Ärger als Nutzen bedeuten würde. Das hat langfristig „wegsehen“ in dem Sinn zur Folge, dass man die Vorgänge gar nicht so genau verfolgt, weil das innere Konflikte erzeugen würde. Man redet es sich schön und blendet Unschönes aus. Klar, das ist menschlich, in gewissem Umfang ticken wir alle so und in gewissem Umfang stimmt das Argument immer. Aber genau deshalb stimmt es eben nur begrenzt – weil es immer Konformitätszwänge gibt. Das kann nicht alles entschuldigen, weil es auf die Handlungsbedingungen von Menschen immer zutrifft. Und wenn alle unter sozialem Druck handeln – von wem geht der Druck denn aus?
Auf Journalisten trifft es nicht zu, dass sie aufgrund prekärer Verträge nicht den akademischen Betrieb kritisch betrachten könnten. Für sie habe ich den Ausdruck „interessiert nicht“ benutzt, weil sie es eben nicht beachten. Ich halte das für professionelles Versagen, weil diese Vorgänge von großer gesellschaftlicher Relevanz sind und die meisten Menschen kaum etwas darüber wissen. Wir fahren da auf einen Eisberg zu und Journalisten sehen darin keinen Nachrichtenwert. Und das soll daran liegen, dass sie einen SJW-Chefredakteur haben, der mit SJW-Universitätsleitungen verbandelt ist? Wie gesagt, die Annahme, dass das in dieser Weise von oben komme, kann ich nicht nachvollziehen.